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Wie sehr darf und soll der Staat in die Gesundheit eingreifen?

Katharina T. Paul (Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien im Bereich Politikfeldanalyse und qualitative Methoden) und Ingrid Metzler (Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Wien) gingen in einem Blog des Standards der Frage nach, wie sehr der Staat in die Gesundheit der Bevölkerung eingreifen darf und soll (https://derstandard.at/2000090877821/Wie-sehr-darf-der-Staat-in-die-Gesundheit-der-Bevoelkerung).

Ausgangspunkt der Ausführungen der beiden Autorinnen war die vor kurzem einführte „Impfpflicht” in Italien: Ein verpflichtender Nachweis einer Reihe von Impfungen bei der Anmeldung zu Krippen-, Kindergarten- und Schulplätzen sollte dort sicherstellen, dass diese Pflicht in der Praxis auch tatsächlich eingehalten wird. Damit wurde – auch international – die Frage aufgeworfen, ob ein Staat Bürger*innen zu Impfungen verpflichten darf bzw. genereller: ob er in die Privatsphäre der Menschen eingreifen und deren Körper „antasten“ darf?

Ein Großteil der Gesundheitspolitik, die nach dem Polititogen Peter Hall als „normale Gesundheitspolitik“ bezeichnet werden kann, spielt sich außerhalb von öffentlichen Kontroversen, Schlagzeilen und Internetforen ab. In diesem Modell bleiben die Akteur*innen, die Werte und Strukturen derer, die die medizinischen Leistungen im öffentlichen Gesundheitssystem ermöglichen und aufrechterhalten, für die Öffentlichkeit meist unsichtbar. In Großbritannien, den Niederlanden, in skandinavischen Ländern und teilweise auch innerhalb der EU gibt es in den letzten Jahren allerdings auch Bemühungen nach Transparenz. Dieses Bemühen, Entscheidungsprozesse für die Bevölkerung nachvollziehbar zu machen, ist dabei auch mit dem Streben nach „evidenzbasierter“ Medizin und Politik verbunden, d.h. Entscheidungen sollen auf der Basis von wissenschaftlichen Belegen („Evidenz“) getroffen werden.

In Österreich, so die Autorinnen, finden gesundheitspolitische Beratungen und Entscheidungen allerdings nach wie vor größtenteils hinter verschlossenen Türen statt, zum Teil deshalb weil Gesundheitspolitik immer auch Budgetpolitik ist. Gesundheitspolitik ist allerdings, so die Autorinnen weiter, nicht nur Budgetpolitik, sondern sie ist auch Datenpolitik, wie beispielsweise in der Erfassung von Daten zur öffentlichen Gesundheit.

Die Umsetzung von Gesundheitspolitik obliegt den Bundesländern und involviert eine Vielzahl an AkteurInnen und steht in seiner Struktur im Kontrast zur versachlichenden Sprache „evidenzbasierter Politik”, da hier Daten und Zahlen eine wichtige Rolle spielen, nicht zuletzt auch in Form von „metrischen Werten”. Solche Werte sollen komplexe Phänomene miteinander vergleichbar und damit auch entscheidbar machen.

Fragen, die sich damit ergeben, sind: Wie viele Fälle eines Syndroms kann ein Test entdecken? Und wie viele dieser vermeintlich entdeckten Fälle sind tatsächlich „positive” Fälle? Auf der Basis von Zahlen dieser Art, die mit Studien ermittelt werden, lassen sich beispielsweise an sich unterschiedliche Screeningmethoden miteinander vergleichen.

Natürlich hängen solche Metriken aber auch davon ab, welche Werte man überhaupt „metrifizieren” möchte (und kann). Beurteilt man ein neues Medikament auf der Basis seiner Auswirkung auf die Mortalität, die Morbidität oder die Lebensqualität? Oder: Soll man nach einem bestimmten Syndrom überhaupt screenen?

Antworten auf solche Fragen sind immer auch Werteentscheidungen und sie sind zugleich auch davon abhängig, welche Daten in der Vergangenheit erfasst wurden und damit in der Gegenwart zur Verfügung stehen. Und sagen auch etwas darüber aus, was spezifische Gesellschaften als wissenswert empfinden – und mitunter auch darüber, was sie gar nicht so genau wissen wollen.

Was genau, so stellt sich damit die Frage, ist nun eigentlich jene „Gesundheit”, die Gegenstand von Gesundheitspolitik sein soll? Und was ist umgekehrt Krankheit? Beide Begriffe sind in den letzten Jahrzehnten brüchig geworden, haben sich verändert. Durch Erkenntnisse aus dem Bereich der „Lebenswissenschaften”, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rasant gewachsen sind, weiß man heute zudem vieles über sogenannte Risikofaktoren. Diese werden selbst nicht als Krankheiten gesehen, können aber das Risiko für bestimmte Krankheiten erhöhen, wie zum Beispiel erhöhte Cholesterinwerte, die das Risiko für Herzinfarkte erhöhen können, oder auch Varianten von Genen, die etwa das Risiko für Alzheimer erhöhen können.  

Dabei ist nicht immer klar, was wir mit diesem neuen Wissen tun sollen. Sollen diese Risikofaktoren behandelt werden? Und wer soll dafür verantwortlich sein? Wo beginnt und endet hier staatliche Verantwortung und jene der Bevölkerung?

In einem Grenzbereich zwischen Gesundheit und Krankheit liegen beispielsweise auch viele Maßnahmen im Bereich der Reproduktionsmedizin. So wurde unerwünschte Kinderlosigkeit bis vor drei Jahrzehnten noch als „Schicksal” betrachtet. Heute kann diese ansatzweise behandelt werden. Dabei aber gibt es durchaus auch Meinungen, die vehement darauf verweisen, dass es sich bei Kinderlosigkeit um keine Krankheit handelt, und die aus eben diesem Grund die Legitimität von medizinischen Interventionen in diesem Bereich infrage stellen.

Aber nicht nur der Aufstieg der Lebenswissenschaften hat an den Begriffen von Gesundheit und Krankheit gerüttelt, sondern auch unterschiedliche soziale Gruppen vertreten alternative Definitionen dieser Begriffe. „Gesundheit” und „Krankheit” sind heute umkämpfte Begriffe. So ist, um ein Beispiel zu nennen, von Impfskeptikern häufig zu hören, dass die Krankheiten, gegen die geimpft werden soll, ein notwendiger Teil des Lebens wären.

Was Gesundheit, Krankheit oder auch „das Leben selbst” ist und wie wir als Solidargemeinschaften damit umgehen sollen, ist nicht einfach nur mehr Gegenstand „normaler Politik“, die in Form von Routinen in Gremien stattfinden soll, vielmehr geht es um grundlegende Fragen, was jenes Leben ausmacht, das wir schützen und fördern wollen, und welche grundlegenden Spielregeln wir dabei einhalten sollen. Zur Debatte stehen damit auch jene grundlegenden Werte, Vorstellungen und Sichtweisen, die in Phasen „normaler Politik” häufig die nicht hinterfragte Grundlage für Entscheidungen bilden.

Gesundheitspolitische Themen werden in solchen Zeiten häufig in sichtbaren Räumen von einer Vielzahl von Menschen diskutiert, wobei „Daten” und „Zahlen” oftmals in den Hintergrund treten oder nicht miteinander vergleichbar sind. In solchen Momenten „moralisierter Politik”, so die Autorinnen, sprechen unterschiedliche Gruppen oft aneinander vorbei, eben weil die Realitäten unterschiedlich sind, die sie durch die von ihnen vertretenen, im Hintergrund stehenden Grundlagen und -annahmen sehen (können). Debatten auf der Basis von Fakten, Zahlen, oder Evidenz zu entscheiden, wird aber erst dann möglich, wenn man sich auf grundlegende Werte geeinigt hat, die gleichzeitig definieren, was man eigentlich messen will. Diese aber werden in solchen Momenten erst verhandelt.

In Italien oder auch Deutschland werden solche Grundsatzdebatten gerne und häufiger auf öffentlichen Bühnen ausgetragen, anders als in Österreich, wo das Führen solcher Debatten weit weniger populär scheint – wenngleich sich durchaus beobachten lässt, so die Autorinnen, dass sie etwas zeitversetzt von Deutschland auch nach Österreich schwappen. Die Soziologen Erich Grießler und Daniel Lehner (2011) bezeichnen das als Politik des Aufschiebens auf „die lange Bank”, die Autorinnen als „Kopf in den Sand”-Politik: Themen, bei denen es auch um grundlegende Werte geht, werden nicht nur in die Gremien, sondern häufig sogar von der politischen Agenda verschoben.